Phänomene wie ‚Zwangsverheiratung‘ oder ‚weibliche Genitalbeschneidung‘ sind in den 1990ern Jahren zu einem verstärkten Fokus feministischen Engagements in Europa geworden. Diese Formen der geschlechtsspezifischen
Gewalt werden als ‚kulturbedingt‘ verhandelt und vor allem in der Gruppe migrantischer Frauen verortet. Damit sind feministische Initiativen, die sich gegen solche Phänomene richten, zentrale Orte der Herstellung, Aushandlung und Reproduktion des Wissens über das Verhältnis zwischen Geschlecht und kultureller Differenz. Dieses Geschlechterwissen (Dölling 2003, 2005) ist Forschungsgegenstand des geplanten ethnographischen Forschungsprojekts, das zum Ziel hat, einen Beitrag zur Erforschung feministischer Praktiken und Diskurse in einer postmigrantischen Gesellschaft (Foroutan 2019) zu leisten. Die Frage der Bedeutung kultureller Differenz für die Konstituierung von Geschlechterverhältnissen und damit einhergehende Debatten um Othering-Prozesse, Intersektionalität und Rassismen sind ebenfalls spätestens seit den 1990er Jahren – gerade in Zusammenhang mit der
Integrationsdebatte – in Wissenschaft, Aktivismus und Praxis zu einem tief spaltenden Konflikt geworden und erhielten seit der Silvesternacht in Köln 2015/16 erneut eine erhöhte Aufmerksamkeit im medial-öffentlichen Bewusstsein. Der Islam und damit verknüpfte Themen wie das Kopftuch oder Vorstellungen einer spezifisch muslimischen Männlichkeit stellen in Europa einen geschlechterpolitischen Kristallisationspunkt dieser Auseinandersetzungen dar. Eine Reihe kultur- und sozialwissenschaftlicher Studien beschreiben und kritisieren umfassend vergeschlechtlichte Bilder und Vorstellungen über „kulturell Andere“ sowie die Verstrickungen von Feminismus mit nationalistischen, kolonialen und rassistischen Politiken. Aber wie entsteht dieses Geschlechterwissen in konkreten Praktiken? Wie wird es hergestellt und situativ ausgehandelt? Und zu welchen Wechselwirkungen kommt es zwischen diesem Wissen und (politischem) Handeln? Bei diesen Fragen handelt es sich um ein Forschungsdesiderat, das mit dieser akteurszentrierten, praxeologischen Studie geschlossen werden soll. Das empirische Forschungsvorhaben fokussiert dabei die Phänomene ‚Zwangsverheiratung‘ und ‚weibliche Genitalbeschneidung‘ als Felder feministischen Engagements. Die Perspektiven der Akteur*innen von drei Initiativen aus unterschiedlichen Städten in Deutschland, die in diesem Feld aktiv sind – ihre Selbstverständnisse, Deutungen und Ambivalenzen sowie ihre Praktiken – stehen im Fokus der Untersuchung. Damit bewegt sich das Forschungsprojekt im Schnittfeld von kulturanthropologischer Bewegungs-, Wissens- und Politikforschung sowie Rassismus- und Geschlechterforschung und trägt gleichzeitig zur Weiterentwicklung feministischer sowie postkolonialer Ansätze in kulturtheoretischen Debatten bei.
Die Forschenden oder sowas ähnliches:
Miriam Gutekunst ist Postdoc-Mitarbeiterin am Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der LMU München. Sie forscht seit vielen Jahren ethnographisch zu Grenzziehungsprozessen und Machtverhältnissen in postmigrantischen Gesellschaften, wobei postkoloniale, rassismuskritische sowie geschlechtertheoretische Perspektiven einen Schwerpunkt bilden. Im Rahmen ihres Promotionsprojekts beforschte sie in Marokko am Beispiel des „Familiennachzugs“ die konflikthafte Umsetzung europäischer Migrationspolitik (2018 erschienen bei Transcript: Grenzüberschreitungen. Migration, Heirat und staatliche Regulierung im europäischen Grenzregime). Aktuell arbeitet sie an einem DFG-geförderten Forschungsprojekt, in dem sie das Geschlechterwissen feministischer Initiativen untersucht, die sich gegen Phänomene wie FGM-C und ‚Zwangsheirat‘ engagieren. Sie ist mitverantwortlich für die digitale Ausstellung „Feministisch verändern: Räume, Kämpfe und Debatten in München“ (www.feministisch-veraendern.de). Sie ist Mitglied des F*AMLab – Labor für feministische Forschung, Bildung und Praxis. Außerdem beschäftigt sie sich mit der Praxis des Schreibens sowie mit Fragen und Herausforderungen engagierter Wissenschaft.
(sie/ihr) ist studentische Mitarbeiterin am Institut für Empirische Kulturwissenschaften und Europäische Ethnologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie hat an der LMU bereits ihr Masterstudium der Politikwissenschaft abgeschlossen und befindet sich aktuell im dritten Semester des Masterstudiengangs der Empirischen Kulturwissenschaften und Europäische Ethnologie. (wird wahrscheinlich noch einen Tick länger!)
In Kooperation mit Gabriele Dietze (Humboldt-Universität Berlin), Begonya Enguix-Grau (Universitat Oberta de Catalunya Barcelona) und Sabine Hess (Georg-August-Universität Göttingen)