Geschlecht scheint eine zentrale Kategorie sozialer Bewegungen der Gegenwart geworden zu sein, wenn auch auf ganz unterschiedliche Art und Weise. In feministischen sowie LGBTIQ+-Bewegungen, die in den letzten Jahren weltweit wieder zu einer wichtigen gesellschaftlichen Kraft wurden (Wichterich 2020), ist Geschlecht das zentrale Argument. Ihre Themen wie sexuelle Selbstbestimmung, Recht auf Abtreibung oder Kampf gegen sexualisierte Gewalt sind aktuell stark umkämpft und stehen global auf den politischen Agenden – nicht nur von sozialen Bewegungen, sondern auch von Regierungen. Beispiele sind die Pro-Choice-Kämpfe in Polen, Irland oder den USA, die Proteste gegen Femizide in Argentinien oder Spanien oder aber auch politische Aktionen gegen Trans- und Queer-Feindlichkeit wie in Ungarn, Saudi-Arabien oder Kenia. Bei Bewegungen für Klimagerechtigkeit, Anti-Rassismus oder Freiheitsrechte dagegen geht es nicht primär um ein geschlechterpolitisches Anliegen, trotzdem sind auch deren Forderungen von feministischen Überzeugungen durchdrungen und vor allem werden Frauen als Führungspersonen dieser Proteste sichtbar wie noch nie (Redecker 2021, Shparaga 2021). Das zeigen zum Beispiel transnationale Gruppierungen wie Fridays for Future oder Black Lives Matter, aber auch die Demokratiebewegungen in Belarus oder Chile, die Massenmobilisierung für reproduktive Rechte in Irland und Polen oder die Proteste im Iran, wo die Ermordung einer jungen Kurdin der Auslöser war, die Forderungen der Akteur*innen aber letztlich auf einen Regimewechsel abzielen. Gleichzeitig formieren sich global erstarkende rechte Bewegungen in ihrer Argumentation ebenfalls entlang von Geschlecht, sowohl im Sinne eines offen artikulierten Antifeminismus als auch durch die Vereinnahmung feministischer Anliegen für rassistische und populistische Politiken (Graff/Korolczuk 2021). Konzepte, an die wir in diesem Zusammenhang anknüpfen können, sind Sara Ahmeds Analyse von Geschlecht als “map of the moment” (2021) oder von Eszter Kováts und Maari Põim als “symbolic glue” (2015). Im Rahmen dieser Tagung wollen wir danach fragen, ob diese beobachtete Zentralität von Geschlecht in gegenwärtigen sozialen Bewegungen tatsächlich neu ist bzw. was sich verändert hat, sowohl in Bezug auf Diskurse und Repräsentationen als auch bezüglich der politischen Praxis sozialer Bewegungen. Welche Gegenwartsdiagnosen lassen sich außerdem stellen, wenn wir aus einer geschlechtertheoretischen Perspektive auf soziale Bewegungen und deren Konfliktfelder blicken?
Soziale Bewegungen – immer auch Ausdruck gesamtgesellschaftlicher Dynamiken – verstehen wir als kollektives Handeln einer Gruppe von Menschen mit dem gemeinsamen politischen Ziel, sozialen Wandel herbeizuführen oder zu verhindern (Joas 2007). Gerade die ethnographische Erforschung von sozialen Bewegungen ermöglicht es, den Blick nicht nur auf formalisierten Protest, sondern auch auf alltägliche Formen des Widerstands, auf subjektive Perspektiven sowie auf affektive Effekte von politischer Teilhabe zu richten (Bonilla 2018; Goodwin et al. 2001). Naisargi Dave (2012) betont, dass Aktivismus mehr ist als die spektakulären Momente von Aktionen und Demonstrationen, sondern es sich dabei immer auch um Praktiken der Reflexion und der Gestaltung alltäglicher zwischenmenschlicher Beziehungen handelt. Daran anschließend möchten wir im Rahmen dieser Tagung den Bewegungsbegriff zunächst weit fassen und ihn induktiv, mit Hilfe der eingebrachten Analysen und Studien mit Inhalt füllen. Im Sinne eines “Mappings” wollen wir die vielfältigen gegenwärtigen Konflikte und Kämpfe um die Kategorie Geschlecht in sozialen Bewegungen zusammentragen und sie in Beziehung zueinander setzen. Ziel ist es, dabei stets die Hierarchisierung von Wissen in Frage zu stellen und Bewegungswissen sowie akademisches Wissen miteinander in Dialog zu bringen. Die Tagung findet in deutscher und englischer Sprache an der Schnittstelle von Wissenschaft, Kunst und Aktivismus statt. Es sind explizit nicht nur Wissenschaftler*innen, sondern auch Vertreter*innen aus der Praxis eingeladen teilzunehmen. Die Veranstaltung ist gleichzeitig die 18. Arbeitstagung der Kommission für Frauen- und Geschlechterforschung der Deutschen Gesellschaft für Empirische Kulturwissenschaft (DGEKW).
Wir möchten uns bei allen bedanken, die diese Tagung ermöglicht haben: allen Referierenden und Teilnehmer*innen, den Kolleg*innen vom Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie sowie der Frauenakademie München, die anerkannter Bildungsträger der Bundeszentrale für politische Bildung ist, sowie der Petra-Kelly-Stiftung und dem Forschungsschwerpunkt „Visuelle Anthropologie“ der LMU München für die Kooperation. Außerdem gilt unser Dank jenen, die diese Tagung finanziell unterstützt haben: Deutsche Forschungsgemeinschaft, Department für Kulturwissenschaften und Altertumskunde an der Fakultät für Kulturwissenschaften der LMU, Frauenbeauftragte der LMU, Kulturreferat der Landeshauptstadt München, Postdoc Support Fund, Münchner Vereinigung für Volkskunde (MVV), Schroubek Fonds Östliches Europa. Beim Kulturzentrum LUISE und bei der Monacensia im Hildebrandhaus bedanken wir uns für die zur Verfügung gestellten Tagungsräume.
Dr. Agnieszka Balcerzak (LMU München)
Dr. Birgit Erbe (Frauenakademie München e.V.)
Dr. Miriam Gutekunst (LMU München)
Dr. des. Alexandra Rau (LMU München)
Ananya Mehra
Jan Spatzl
Carina Müller
Marisa Müller
studio mllr
Priscillia Grubo
Sophia O’David
Johanna Löffler
Dr. Miriam Remter
Forschungsschwerpunkt „Visuelle Anthropologie“ (LMU München)
Ahmed, Sara (2021): Gender Critical = Gender Conservative. Online verfügbar unter: https://feministkilljoys.com/2021/10/31/gender-critical-gender-conservative (15.10.2022).
Bonilla, Yarimar (2018): Social Movements. In: Oxford Bibliographies. Online verfügbar unter: https://www.oxfordbibliographies.com/view/document/obo-9780199766567/obo-9780199766567-0024.xml (15.10.2022).
Dave, Naisargi N. (2012): Queer Activism in India. A Story in the Anthropology of Ethics. Durham.
Goodwin, Jeff/Jasper, James M./Polletta, Francesca (Hg.) (2001): Passionate Politics. Emotions and Social Movements. Chicago/London.
Graff, Agnieszka/Korolczuk, Elżbieta (2021): Anti-Gender Politics in the Populist Moment. London.
Joas, Hans (Hg.) (2007): Soziale Bewegungen und kollektive Aktionen. In: Ders.: Lehrbuch der Soziologie. 3. Aufl. Frankfurt am Main/New York, S. 629–651.
Kováts, Eszter/Põim, Maari (Hg.) (2015): Gender as Symbolic Glue. The Position and Role of Conservative and Far-Right Parties in the Anti-Gender Mobilizations in Europe. Brüssel/Budapest.
Redecker, Eva von (2021): Kampf gegen eine “geteilte Welt”. Frauen in Protestbewegungen. Im Interview mit Britta Bürger. Online verfügbar unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/frauen-in-protestbewegungen-kampf-gegen-eine-geteilte-welt-100.html (15.10.2022).
Shparaga, Olga (2021): Die Revolution hat ein weibliches Gesicht. Berlin.
Wichterich, Christa (2020): Die neue feministische Welle: Brücken bauen, Kämpfe verbinden. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2020, S. 67-72.